Sorgenkind Semikolon

In der Studie Theorie der Punkte und Striche geht es um die Entwicklung der Interpunktion. Autor Karsten Rinas beleuchtet ihre Geschichte von der Frühen Neuzeit an. Immer trieb Sprachexpertinnen und -experten die Frage um: Wie können wir Texte lesbar machen?

Autor Karsten Rinas zieht für seine Studie andere Disziplinen hinzu, etwa Rhetorik, Stilistik, Poetik, Musiktheorie, Logik und Philosophie, und verortet die Veränderungen der Interpunktion in einem kulturhistorischen Kontext. Im Anhang finden sich ein chronologisches Verzeichnis, ein Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister auf insgesamt 492 Seiten. Ferner listet der Autor typografische Konventionen auf.

Unter Interpunktion versteht man die Gliederung von geschriebener Sprache durch die nichtalphabetischen Zeichen wie Punkt, Komma und Ausrufezeichen. Dem Germanisten Karsten Rinas ist wichtig, dass die Lehren über die Zeichensetzung als spezifische Weisen der Sprachanalyse betrachtet werden und dass sie gerade im Deutschen eine starke syntaktische Verankerung haben. Das bedeutet, dass, wer die Zeichen richtig setzen will, auch ein Grundverständnis vom Satzbau haben sollte. Er konzentriert sich in seiner Arbeit vornehmlich auf die Zeichen Punkt, Doppelpunkt und Komma. Sein Ansatz ist die Geschichte der Interpunktionslehre im Kontext der Geschichte der Sprachtheorie sowie der Kulturgeschichte.

Methodisch basiert die Studie auf einer Auswertung von einschlägigen Quellen mithilfe traditioneller philologisch-hermeneutischer Verfahren, was bedeutet, dass historische Phänomene vor dem Hintergrund ihrer Zeit begriffen werden. Der Verfasser des Buches untersucht ferner viel Quellenmaterial aus dem schulischen Kontext.

Der Terminus „Interpunktion“ wird erst im 19. Jahrhundert üblich, wie auch andere Satzzeichen unter anderem Namen bekannt sind, z. B. wird das Komma „Trenner“, der Punkt „Ruhezeichen“ oder das Komma „Satzkerbe“ genannt.

Was Oralität bzw. Literalität angeht, so gibt es frühe Bestrebungen, die Texte in einer bestimmten, intonierten Weise laut vorzutragen, was wiederum Auswirkungen auf die Interpunktion hat.

Karsten Rinas unterscheidet folgende Phasen der deutschen Interpunktionsgeschichte:

1. Die antiken theoretischen Grundlagen

Sie basieren auf der Philosophie, der Rhetorik und der Grammatik. In der Antike spricht man von der Periodenlehre, d. h. die selbstständige Wortverbindung, welche von ihrer Bedeutung und auch aus rhythmischer Sicht als vollständig und abgeschlossen empfunden wird. Die Periode kann in kleine Einheiten unterteilt werden: Kolon und Komma.

2. Mittelalter

Die Geschichte der Sprachwissenschaft spricht dem Mittelalter keine große Bedeutung zu, da es keine wesentlichen Beiträge in Bezug auf die Grammatik gibt. Da das Christentum eine schriftorientierte Religion ist, entstehen besondere philologische Bemühungen, sakrale Texte zu überliefern. Besonders irische Mönche bemühen sich, die Texte zugänglicher zu machen, indem sie eine konsequente Worttrennung einführen und Interpunktionszeichen einfügen sowie ein übersichtlicheres Layout in ihren Texten verwenden. Es tauchen zusätzliche Mittel auf, etwa das „Fragezeichen“, ferner Großbuchstaben. Eine große Variation beim Gebrauch von Interpunktionszeichen ist vorhanden, aber es gibt keine Weiterentwicklung. Die Periodenlehre spielt weiterhin eine große Rolle.

3. Frühe Neuzeit (ca. 1450–1700)

In dieser Zeit wird die antik-mittelalterliche, auf der Periodenlehre basierende Interpunktionslehre tradiert, außerdem werden die Zeichen und die Terminologie begründet. Die wichtigste Neuerung ist zweifelsohne die Erfindung des Buchdrucks von Johannes Gutenberg, mit dem man eine Möglichkeit hat, viele identische Textexemplare herzustellen. Somit müssen auch die Sprachform und die Schreibung standardisiert werden, was auch die Interpunktionszeichen betrifft. Im öffentlichen Leben wird immer mehr Deutsch gesprochen und geschrieben, und es braucht immer mehr Menschen, die die Sprache vermitteln können. So entstehen deutsche Schulen und die ersten Lehrbücher werden gedruckt. Die Interpunktion unterliegt aber noch Schwankungen.

4. Vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

Die Interpunktion wird in dieser Phase auf präzise grammatische Grundlagen gestellt. Der Schriftsteller, Dramatiker und Pädagoge Christian Weise liefert hier wertvolle Beiträge (Satzlänge, semantische Faktoren, sprachpraktisch basierte Definition von Satzgliedern). Es werden wichtige Grundlagen für die Interpunktion geschaffen. Rinas hält fest, dass die traditionell-rhetorische Interpunktionslehre durch eine grammatisch-syntaktische Konzeption verdrängt wird.

Das ganze 18. Jahrhundert über finden sich konservative Interpunktionslehren, die die rhetorische Periodenlehre fortsetzen, d. h. die Bestimmung des Gebrauchs der Zeichen Punkt, Kolon und Komma. Diesen Zeichen wird das Semikolon an die Seite gestellt.

Des Weiteren breitet sich in dieser Phase auch der Gedankenstrich aus und gewinnt an Bedeutung. Er wird zu einer Modeerscheinung, die auch in literarische Werke von zweifelhaftem Ruf Eingang findet. Neu hinzukommen auch die Anführungszeichen. Insgesamt gesehen findet in diesem Abschnitt eine Stabilisierung in der Terminologie der Interpunktionslehre statt.

Sprache gilt als Repräsentationsmittel, weshalb dem sprachlichen Ausdruck noch mehr Interesse entgegengebracht wird. Interessant ist, dass in dieser Phase der Briefverkehr rapide zunimmt und mehr Aufmerksamkeit erhält.

Eine weitere Feststellung ist, besonders aus heutiger Sicht, interessant: Auch Frauen haben einen Einfluss auf die Sprachkultur. So wird gerade der Sprachgebrauch von Frauen, die in den meisten Fällen nicht auf eine Vorbildung im antiken Sinne zurückgreifen können, als Muster für Natürlichkeit angesehen. Eine neue Zielgruppe entsteht: Frauen. Bücher wie Literatur des Frauenzimmers (Anonymus) und Bücherkunde für gebildete Frauenzimmer (Müller) werden gedruckt. Ratgeber für Sprach- und Orthographie-Lehren erscheinen. Denn die Auffassung, dass Frauen mit den Feinheiten der Interpunktion Probleme hätten, ist weit verbreitet – und das noch bis in die jüngste Vergangenheit: Im 19. Jahrhundert werden spezielle Sprachlehren und auch Interpunktionslehren für Frauen publiziert, sogar im 20. Jahrhundert erörtert man, ob Frauen anders „interpungieren“ als Männer.

5. Die Zeit zwischen 1800 und 1850

In diesem Zeitabschnitt wird die Sprachlehre als Denklehre begründet. Hier gibt es die Tendenz, zu einer einfacheren, kürzeren, transparenteren Struktur des Satzes zu kommen. Man will sich von Verschachtelungen frei machen. Das Semikolon ist immer noch ein Sorgenkind, weil dessen genaue Funktion und Anwendung nicht präzise definiert ist. Die Interpunktion ist dennoch in der deutschen Sprache uneinheitlich.

6. Von der Mitte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts

In dieser Phase steigen die Bemühungen, die Rechtschreibung zu vereinheitlichen. Sie finden ihren Abschluss durch die allgemeine Verbreitung durch den Duden. Ein auffälliges Merkmal ist die Einbeziehung lautlicher Aspekte: Der Punkt markiert die „Senkung der Stimme“ am Satzende, das Fragezeichen eine „stärkere Hebung“. Das Ausrufezeichen ist ein „Ausdruck lebhafterer Gemütsbewegung“. Diese Lehre stößt auf die üblichen Schwierigkeiten, vor allem auf die Probleme des Satzbegriffs. Grundsätzlich ist diese Zeit geprägt von der Industrialisierung in Deutschland und damit einhergehend dem Bevölkerungswachstum. Es gibt Tendenzen zur Vereinheitlichung, diese wirken sich auch auf die Sprachkultur und Sprachtheorie aus. Der Umgang mit dem Semikolon bleibt problematisch, das Komma gilt als das „schwierigste“ Interpunktionszeichen, der Gebrauch des Kolons verliert an Bedeutung.

7. 20. Jahrhundert

Es kommt jetzt zu einer expansiven Ausweitung der im Rechtschreibduden vermittelten Interpunktionsregeln. Diese gelten als Standard und werden in zahlreichen Veröffentlichungen benutzt. Es gibt außerdem Reformvorschläge und Bemühungen um eine bessere theoretische Durchdringung dieser Regeln. Die Geschichte dieser Phase ist besser erforscht als die aller anderen. Rinas erwähnt die Problematik bei dem Komma vor „und“ und die Durchsetzung der Duden-Lehre. Die Reform von 1996 hat hohe Wellen geschlagen und sie könne nicht als Ruhmesblatt in der Geschichte der deutschen Sprache angesehen werden. Damit einhergehend ist der schwindende Einfluss des „Duden“. Der Verlag hat nur noch die Aufgabe, in seinen Werken die amtliche Regelung darzustellen – ebenso wie die Konkurrenz-Verlage. 2006 wurden die Reformen teilweise wieder zurückgenommen.

Im 20. Jahrhundert denkt man, dass die Interpunktionslehre syntaktisch fundiert sei. In jüngster Zeit gibt es Vorschläge, in denen man phonetische und syntaktische Aspekte kombiniert. Schließlich wird sich mit der Ausbreitung moderner elektronischer Medien die Zeichensetzung wieder verändern. Man denke an die Smileys oder Emoticons, die sich längst etabliert haben.

Im Schlusswort erkennt der Verfasser, dass die Interpunktion ein Phänomen ist, das unterschiedliche Bereiche der Sprachlehre betrifft. Gerade dieser Umstand macht eine Analyse so schwierig, aber auch reizvoll, auch wenn die Interpunktion ein Nebenschauplatz der Sprachwissenschaft ist.

Fazit:

Bei dem Buch handelt es sich um die Ergebnisse eines Forschungsprojektes, die vorwiegend in einem universitären Kontext genutzt werden. Es ist kein Nachschlagewerk, in dem genau enthalten ist, wann welches Satzzeichen zu setzen ist. Der Verfasser betont in der Einleitung, dass die Praxis der Interpunktion nicht im Vordergrund steht. So wird auch der faktische Gebrauch zu verschiedenen Zeiten nur gelegentlich thematisiert. Daher muss man in Zweifelsfällen einschlägige Werke konsultieren. Nachvollziehbar ist die Aussage, dass die Interpunktion ein komplexes Phänomen ist, das unterschiedliche Bereiche betrifft.

Die umfangreiche Studie setzt sich intensiv mit dem Wandel von Sprachtheorien auseinander, ausgehend von der Antike bis in die Neuzeit. Zu allen Zeiten waren die Menschen, die mit Sprache zu tun hatten, damit beschäftigt, Texte lesbar zu machen und ihnen eine „verbraucherfreundliche“ Form zu geben. Mir persönlich hat das Buch sehr gut gefallen und ich habe es gerne gelesen, weil es u. a. viele kulturgeschichtliche Aspekte enthält, die in einem reinen Nachschlagewerk nicht enthalten sind.

Für alle, die sich mit Sprache beschäftigen, ist das Buch eine lesenswerte Lektüre!

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