Grandios: Ein Buch zum (antiken) Buch
Mit tänzerischer Leichtigkeit schreibt die Spanierin Irene Vallejo in „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“, wie Schrift und Buch den Menschen über seine Vergesslichkeit haben siegen lassen. Sie erzählt von Griechen und Römern, Schriftrollen und Kodizes, von Autoren, Lesern und Bibliotheken der Antike und vom Traum unsterblicher Geschichten. Frech und begeistert verknüpft sie die antike Kultur mit der Literatur und Kunst unserer Zeit und nicht zuletzt mit ihrem eigenen Leben.
Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Buch zu lesen ist ein Genuss. Offiziell firmiert es unter Sachbuch (und das ist es auch), aber es ist noch viel mehr: Es ist eine mit tänzerischer Leichtigkeit geschriebene Kulturgeschichte, mit furios und kunstvoll gesetzten Sprüngen von den Anfängen der Schrift und des Buchwesens zur modernen Kultur, zu Irene Vallejos eigener Biografie und mitten hinein in unsere Art zu denken und zu leben. Frech und unverblümt, poetisch und verliebt erzählt die Spanierin Geschichte und Geschichten; sie zitiert, sie paraphrasiert, sie gibt antike Anekdoten zum Besten, sie nimmt wahr und sie deutet. Und manchmal wagt sie auch den Ausflug in die Phantasie.
Schrift und Buch bewahren Ideen vor dem Vergessen
Ausgehend von der sagenumwobenen Bibliothek von Alexandria und dem mit ihr verbundenen Traum, alle Bücher der Welt (und damit das Menschheitswissen der Zeit) zu versammeln, führt uns Vallejo, klassische Philologin und Antiken-Begeisterte, zurück zum mündlichen Erzählen der Vorzeit und der Erfindung des Alphabets. Erinnertes schriftlich festzuhalten und vor dem Vergessen zu bewahren, hat die schier unendliche Erweiterung von Wissen möglich gemacht und schließlich zu Kultur, Zivilisation und Wissenschaft geführt, wie wir sie kennen. So weit die kürzest mögliche Beschreibung des Inhalts.
Trockene Fakten? Keine Spur!
Strukturell ist das Werk in die beiden Großkapitel Griechenland und Rom geteilt. Es geht ums Material (um Papyrus als revolutionär neuen Beschreibstoff der Antike – daher der deutsche Titel – und um Pergament), um die Form der Bücher und ihrer Vorläufer (von der Holz-, Stein- oder Tontafel zur Schriftrolle und zum Kodex), die Entwicklung von Lesefähigkeit und Lesegewohnheiten, um Bildung, Buchhandel und Bibliotheken in der griechisch-römischen Antike, um reiche Mäzene und arme Autoren. Was potenziell auch ein trockenes Fakten-Skelett hätte werden können, das lässt Vallejo vor unseren Augen aus Fleisch und Blut, prall und lebensvoll wiederauferstehen.
Die Antike kommt uns ganz nahe
Das ist ihre eigentliche Kunst: Sie malt aus allem, was das antike Schriftgut so hergibt – Epik, Lyrik, Philosophie, Reden, Fragmente, Notizzettel, sogar antike Graffiti aus dem durch Vulkanasche konservierten Pompeji – eine Welt, die uns überraschend nahe kommt. Die reiche Spiegelung antiker Lebenswelten und Themen in Literatur, Kunst, Musik, Film, Gesellschaft und Politik des 20. und 21. Jahrhunderts (und auch der Jahrhunderte dazwischen) – ich greife wahllos J.R.R. Tolkien, Stephen King, Charlie Parker heraus, oder Susan Sontag, Iron Maiden, Martin Scorsese, Steve Jobs ... – vermittelt ihre wahrscheinlich wichtigste Botschaft: Die Antike ist nicht vorbei. Besser gesagt: Wer das Heute unserer (Buch-)Kultur verstehen will, kommt nicht ohne sein Gestern aus.
Vier Jahre unter schwierigen Bedingungen geschrieben
Ich kann mich an kaum ein Sachbuch erinnern, das ich so leicht und gerne gelesen hätte. Die Unterkapitel sind kurz gehalten, manche Information wiederholt sich im Verlauf. Doch das erleichtert sogar den Lesefluss, weil Wichtiges auch im neuen Zusammenhang noch einmal genannt und erinnert wird. Dass die Unterkapitel kurz gehalten sind, ist offenbar auch dem Produktionsprozess geschuldet: Vier Jahre lang schrieb Vallejo als junge Mutter eines schwer kranken Kindes an ihrem ersten Sachbuch, von dem sie glaubte, es würde angesichts der schwierigen Umstände ihr letztes sein: intensive Betreuung ihres Sohnes im Wechsel mit ihrem Mann, Krankenhaus, die Sorge ums Kind, knappes Geld. Darüber spricht sie mit FAZ-Feuilletonist Paul Ingendaay (www.faz.net, 12.10.2022). Im Buch, in dem sie auch autobiografische Momente thematisch verknüpft, ist davon keine Rede. Aber um diese Rahmenbedingungen zu wissen, fügt der Verflechtung von Leben und Buch eine weitere Dimension hinzu.
Ein bisschen Kritik ...
Grabe ich nun doch etwas tiefer nach einer Kritik, dann finde ich die: Die Feier der kulturellen Leistungen Alexanders des Großen gerät mir angesichts seines Eroberungswahns etwas zu groß (die Menschen in Indien wurden nicht gefragt, ob sie griechisch werden wollen ...). Die zivilisatorische Rolle des Christentums und die Bedeutung der Klöster für die Bewahrung, Verbreitung und Weiterentwicklung von Buch und Schrift hingegen wird mir – mit wenigen Ausnahmen – zu stiefmütterlich behandelt. An beiden Stellen spürt man, dass Vallejos Herz ungeteilt für die griechische und römische Antike schlägt.
Großartig übersetzt
Dass die Altphilologin bei aller Erzählfreude exakt gearbeitet hat, erschließt das Quellenverzeichnis am Ende: Auf 45 Seiten werden detailliert Quellen für Nacherzähltes, Anekdoten und Begebenheiten aufgeführt. Daran schließt sich ein Verzeichnis an, das die von – beide großartig – Maria Meinel und Luis Ruby für die Übersetzung herangezogene Literatur auflistet, gefolgt von weiteren Literaturempfehlungen der Autorin und einem Personenregister.
Leichtfüßig, lehrreich – ein Gewinn
Ein leichtfüßiges, lehrreiches, an Assoziationen reiches Buch für alle, die sich für das Buch, seine Vergangenheit (und Zukunft) interessieren. Für Lektorinnen und Lektoren allemal ein Gewinn – und auch nach einem langen, textreichen Arbeitstag noch gut verdaulich.
Online erhältlich zum Beispiel im Autorenwelt-Shop und bei buch7.de.
Eva Heuser: Lektorats-Website www.textkodex.de und journalistischer Blog www.zweikoepfe.net, Profil (https://www.lektoren.de/profil/eva-heuser) im VFLL-Verzeichnis lektor-in-finden.de