Kann man lesen …

Sprachkritik in Form von Glossen ist in Mode und etliche Zeitungs- und Buchverlage beglücken uns seit Jahren damit. Nun auch der Duden. Kann man sagen, muss man aber nicht – so lautet der Titel eines im vergangenen Jahr erschienenen Buches des Journalisten und Autors Andreas Neuenkirchen. Neuenkirchen ist sich der Mode und Flut der Sprachglossen durchaus bewusst und auch der Kritik an solcher Sprachkritik. Vorsorglich übt er daher in einer kurzen Einleitung Kritik an der Kritik der Sprachkritik und versucht so, seine Sprachkritik zu legitimieren.

Was dieses Werk von anderen Sprachkritiken unterscheidet, ist sein lexikalischer Aufbau. Von A wie abartig bis Z wie zeitnah versammelt das Buch „Sprachverwirrungen der Gegenwart“. Die Lemmata sind einer oder auch mehreren thematischen Kategorien zugeordnet und mit entsprechenden Symbolen gekennzeichnet. Die Kategorien lauten: Sprache der Angeber und Aufschneiderinnen, Alltag und Small Talk, Jugendsprache und Popjargon, Anglizismen, Presse und Werbung, Politik und Stammtisch, Sprache der Arbeitswelt.

„Andreas Neuenkirchen“, so der Klappentext, „legt seinen Finger in die Wunde der sprachlichen Unfälle, Plattitüden und Scheußlichkeiten, denen wir im Alltag begegnen. Mit viel Humor und ohne erhobenen Zeigefinger.“ Das trifft es ziemlich gut – wenn man denn die Werturteile von Neuenkirchen vorbehaltlos teilt. Das allerdings fällt nicht immer leicht, denn er gibt keine expliziten Bewertungskriterien an. Und manchmal stellt sich die Frage, ob er das Wort oder die Sache moniert (z. B. Influencer, Spoiler). Oft beides, wenn es sich um Euphemismen wie z. B. Kollateralschaden handelt. Denn Verschleierung ist eines der Kriterien, die Neuenkirchen wohl anlegt und die man als Leserin oder Leser erschließen kann. Weitere Kriterien dürften unter anderem sein: Verständlichkeit (z. B. luzid), Bedeutungsverarmung (z. B. holistisch), Bedeutungserweiterung (z. B. ganzheitlich), Bedeutungsleere (z. B. dynamisch).

Ganz besonders haben es dem Autor neben Floskeln und Phrasen mehr oder weniger abgedroschene Metaphern angetan: So landen auch Bauchgefühl, Drahtesel oder Stubentiger auf dem Index. Doch daran wird man ein Fragezeichen machen dürfen. Soll man im Alltag statt von Bauchgefühl etwa von einem viszeralen Marker sprechen? Viele Entscheidungstheoretiker haben jedenfalls kein Problem damit, auch einmal Bauchgefühl statt Intuition zu sagen. Und soll sich der kleine Fahrradladen um die Ecke etwa BikeCenter statt Drahtesel nennen? Und darf man künftig seine Schmusekatze nicht mehr liebevoll-ironisch Tiger nennen, bloß weil zwar jeder Tiger eine Katze, aber nicht jede Katze ein Tiger ist? So gibt es viele Wörter, bei denen Andreas Neuenkirchen vom Kontext abstrahiert und pauschalisiert. Das gilt auch für Ausdrücke wie Kohärenz, Konflikt oder Trigger, bei denen eine unscharfe alltagssprachliche Verwendung wohl kaum gegen einen sinnvollen fachsprachlichen Gebrauch spricht. Eine pauschale Kritik lässt eine solche Differenzierung und Relativierung indes nicht zu.

Auf dem Neuenkirchen-Index findet sich auch Odeur – ein Wort, das ich seit Jahrzehnten nicht mehr gehört oder gelesen habe. Und das soll einer der „größten Sprachaufreger im Deutschen“ sein, wie der Störer auf dem Umschlag verkündet? Muss man wirklich gegen ein veraltetes Wort oder ein vielleicht abgedroschenes, doch treffendes Sprachbild in einen emotionalen Sprachkampf ziehen? In dem gesamten Buch habe ich gerade einmal zwei Wörter gefunden, bei denen ich mich wirklich aufregen kann: Verschwulung und Opfer (als Schimpfwort), die beide eine menschenverachtende Gesinnung transportieren.

Um nicht ungerecht zu sein: Bei vielen Bewertungen stimme ich Andreas Neuenkirchen zu. So sind beispielsweise unter dem Buchstaben C etliche Anglizismen von canceln bis cringe angeführt, die samt und sonders entweder nicht allgemein verständlich, unangemessen übertragen oder schlicht überflüssig sind. Und es ist durchaus vertretbar, auf falsche Begriffsverwendungen hinzuweisen (z. B. depressiv statt deprimiert). Auch zahlreiche Floskeln und Phrasen wie innovativ, konstruktiv und kreativ sind zu Recht aufgeführt, um für deren Gebrauch oder besser: Nichtgebrauch zu sensibilisieren. Und das auf eine recht humorvolle und lockere Art und Weise. (Den Ausdruck flotte Schreibe verkneife ich mir, denn auch darauf reagiert Neuenkirchen allergisch.) Die Lektüre macht daher Spaß, regt zum Nach- und Überdenken an und reizt zum Widerspruch. Gleichwohl lautet mein Resümee: Kann man lesen, muss man aber nicht.

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Joachim Fries’ Website und Profil im Lektoratsverzeichnis

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