Umfassendes Grundlagenwerk zur deutschen Orthographie

Zugegeben, es braucht schon eine ziemlich spezielle Leidenschaft, um sich einem Werk zuzuwenden, das eine „umfassende sprachwissenschaftliche Gesamtdarstellung der deutschen Orthographie“ (Klappentext) bietet. Aber wo diese Leidenschaft ein wenig glimmt, da vermag das vorliegende Werk doch die eine oder andere Flamme zu entzünden.

So kann man beispielsweise in die Geschichte der allmählichen Normierung von Schreibweisen des Deutschen eintauchen und dabei erfahren, dass diese anfangs stärker lautlich geprägt war (hant, hende), ehe sie zu der heute wirksamen Struktur fand, die in der graphischen Darstellung der Sprache vor allem die Morpheme erkennbar hält und also bei Hand, Hände sowohl im Auslaut als auch im Vokal den Zusammenhang der beiden Worte deutlich bleiben lässt.
Die Diskussion der phonemischen, morphemischen, lexikalischen und syntaktischen Prinzipien, die die aktuell gültige Rechtschreibung strukturieren, geht sicher in der Erläuterung der Grundbegriffe und der Entfaltung quasi aller denkbaren Aspekte weit über das hinaus, was selbst eine Lektorin oder ein Lektor im Alltag braucht. Doch gerade der Blick auf die historischen Debatten um diese Prinzipien sensibilisiert sehr für den heutigen Regelgebrauch. Sehr informativ ist auch das Kapitel über die Aneignung der Rechtschreibung, das vor dem Hintergrund einer breiten Darstellung unterschiedlicher Zugänge zum Rechtschreiblernen auch eine Abwägung der Vor- und Nachteile der jüngsten Reform für das Hineinwachsen ins Richtigschreiben enthält.
Gerade für Lektoren mag es interessant sein, dass hier noch einmal jemand grundsätzlich die Bedeutung von regelhaftem Schreiben für die Kommunikation verdeutlicht. Der entsprechende, einführende Teil des Buches, in dem die Begriffe Orthographie, Norm, Regel usw. entfaltet sind, gehört zu den besten des Werkes. Er schafft durch seinen weiten historischen Blick sowie den deutlich durch Prager Strukturalismus und Kommunikationstheorie geprägten Ansatz einen so differenzierten wie reflektierten Begriff von Rechtschreibung und ihren Funktionen innerhalb der „Sprachkultur“, dass sich vor diesem Reflexionsraum manche Aufgeregtheiten um die Rechtsschreibreformen deutlich relativieren dürften. Das ist Wissenschaft, wie man sie liebt! Dazu ist das Kapitel verständlich geschrieben, selbstreflektiert und präzise und, wie der gesamte Band, frei von Polemik. Verständlich geschrieben sind alle Teile des Buches.
Doch es lassen sich auch weniger erfreuliche Aspekte beobachten, die häufig mit Wissenschaftlichkeit in Verbindung gebracht werden. Dazu zählt, dass in vielen Bereichen offensichtlich auf eine völlig umfassende und abschließende Darstellung abgezielt wurde, was der intellektuellen Spannung nicht nur zuträglich ist. So fasst das Kapitel 5 über die Beziehungen von graphischer und semantischer Ebene (stellenweise untergliedert bis in die vierte Stufe) auch die graphische Textform ins Auge und informiert hier den Leser: „Bei Prosatexten wird in der Regel die volle Breite des Schriftfeldes ausgenutzt. Nicht dagegen bei Texten in Versform“, um dann den Umgang mit dem Platz auf der Seite für die unterschiedlichen Textgenres höchst differenziert zu beschreiben – sicher, der Band versteht sich als Grundlagenwerk, aber ein wenig mehr Vertrauen in die Abstraktionsfähigkeit der Lesenden hätte diesen sicher einiges Gähnen und dem Buch einiges von seinem Gewicht erspart. Schade auch, dass das Buch – böse könnte man sagen: auch hierin einem einschlägigen Habitus des Wissenschaftlichen verpflichtet – in mancherlei Hinsicht von äußerer Schönheit eher absieht und beispielsweise zweizeilige Kolumnentitel enthält. Dass der Band „Deutsche Orthographie“ nicht wenige Fehler enthält, sogar im Kolumnentitel (Kap. 5.4), dass auch in einem Zitat – ok, von 1993, aber eben leider unkommentiert – das explizierende Beispiel gemäß heutigen Regeln falsch geschrieben ist („sich über etwas im klaren sein“; S. 357), das alles mag man dann schlicht als die Lässigkeit der Wissenschaft gegenüber der Praxis ansehen. Für das Benutzen in der Praxis wird es damit noch unbrauchbarer. Aber es ging ja ohnehin um andere, speziellere Leidenschaften.

Inhaltsüberblick:
I Grundlagen und Wissenschaftsentwicklung
1. Einführung und Begriffsbestimmung
2. Zur Stellung der geschriebenen Sprache und Orthographie in der neueren Linguistik
II Systematische Darstellung
3. Die Stellung der graphischen Ebene im System der Standardsprache
4. Die Beziehungen von graphischer und phonologischer Ebene
5. Die Beziehungen von graphischer und semantischer Ebene
6. Zum stilistischen Aspekt der Schreibung
III Entwicklungsprobleme
7. Orthographiegeschichtlicher Abriss
8. Spezifik und Entwicklung des deutschen Orthographiewörterbuchs
9. Bemühungen um eine Reform der deutschen Orthographie im 20. Jahrhundert und bis zur Gegenwart
IV Leseprozess und Orthographieerwerb
10. Zur Perzeption geschriebener Sprache
11. Probleme des Erwerbs der Orthographie
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis

Dagmar Deuring, Berlin

nerius_orto_2007